So haben wir es vor 25 Jahren gesungen. Wir nahmen Abschied voneinander und wussten tatsächlich nicht, ob wir uns jemals wiedersehen würden. Und doch haben wir es geschafft und sitzen (fast) alle hier in unserer guten alten Aula!
Auf der Einladung hieβ es so schön: wir haben Geschichte erlebt. Und es stimmt auch: während unserer Schulzeit und auch danach: unsere persönliche Geschichte und die andere, die man auf Portugiesisch sogar groβ schreibt: a História. Mich interessiert im Augenblick aber eher die erste, also unsere:
Den Mauerfall, der eigentlich eher zu den Ereignissen der zweiten “Geschichtesorte” gehört, kommentierte Willy Brandt mit dem seitdem bekanntgewordenen Satz: «Nun muss zusammenwachsen was zusammengehört»; ich würde heute diesen Satz leicht umstellen und behaupten: nun gehört zusammen was oder wer zusammen (auf)gewachsen ist!
Ihr wisst fast alle, dass ich Lehrerin geworden bin; ich glaube, aus keiner besonderen Berufung, bloβ weil ich mit anderen Menschen das teilen wollte, was ich hier, an unserer Schule Interessantes gelernt habe!
Es ist natürlich nicht möglich, alles aufzuzählen, was uns beigebracht wurde, aber ihr müsst zugeben: es war unheimlich viel. Apropos Aufzählung: erinnert sich jemand noch daran?
“Aufzählung zum Abzählen, von Erich Fried”
[…] Vormensch, Nachmensch, Mitmensch, Hauptmensch, Nebenmensch, Unmensch»
Unmenschen sind wir bestimmt nicht geworden, aber vieles schien uns damals völlig unmenschlich und sinnlos zu sein, gar absurd: Wozu braucht man zu wissen, dass im Satz
«O Sampaio engole baleias vivas ao pequeno-almoço»
o Sampaio sintagma nominal, (abgekürzt SN) engole baleias vivas, sintagma verbal und ao pequeno-almoço sintagma preposicional ist?
Es mag sein, dass diese Satzglieder inzwischen anders genannt werden, und vielleicht lernen unsere Kinder es sowieso nicht mehr, aber eins steht sicher fest: O Sampaio sitzt heute noch unter uns, und wir sind die einzigen die wissen, dass Sr. Queirós, unser ehemaliger Portugiesich-Lehrer dich, lieber Guilherme, immer Sampaio nannte.
Und wir sind sicherlich auch die einzigen, oder gehören zumindest hierzulande zu den wenigsten, die wissen, was der Vater eines Tages seinem Sohn Gineto sagte:
«Um dia o pai disse ao Gineto: Vamos aos salvados …»,
Oder welche Frage der Fischer der Barca Bela zu beantworten hatte: «Pescador da barca bela, onde vais pescar com ela, que é tão bela, ó pescador?»
und gleichzeitig aber auch die Antwort auf folgende Frage kennen:
«Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?» – «Es ist (natürlich) der Vater mit seinem Kind»
Und auch immer noch im Schlaf wissen, welches Märchen aus alten Zeiten mir nicht aus dem Sinn kommt – nämlich die Loreley!
Die Wissenschaft hat dafür einen Namen: das immaterielle Kulturerbe. Es umfasst (nach Definition der UNESCO-Konvention) „Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten – sowie die dazu gehörigen Instrumente, Objekte, Artefakte und kulturellen Räume […], die Gemeinschaften, Gruppen und gegebenenfalls Einzelpersonen als Bestandteil ihres Kulturerbes ansehen.
[Klammer auf: das war jetzt aber ein echter Wurmsatz, oder? Klammer zu, oder wie es damals so oft in unserem Deutschunterricht hieβ: Anführungsstriche/zeichen unten – Anführungsstriche oben].
Dieses kulturelle Erbe ist sozusagen unser kleinster gemeinsamer Nenner, oder wenn ihr es anders ausdrücken wollt, es ist die Schnittmenge unserer vielen Mengen. (Die Schnittmenge von zwei Mengen A und B besteht aus allen Elementen, die sowohl in A als auch in B vorkommen). Und in unserem konkreten Fall ergibt die Schnittmenge zweifelsohne keine leere Menge. Ganz im Gegenteil: Es ist eine ziemlich volle Menge!
Obwohl sich hierfür ein mathematischer Beweis erübrigt, möchte ich alle dazu einladen, liebe Lehrer und liebe Mitschüler (auch ein so schönes typisch deutsches Wort) eine kleine Reise durch den vielfältigen Inhalt dieser Schnittmenge zu unternehmen:
Also, los!
Erster Halt: die Literatur, die sich wie wir es damals schon gelernt haben in Epik oder Prosa, Drama und Lyrik oder Dichtung aufteilt; jedes Werk, das wir zusammen gelesen haben gab Anlass für lange Gespräche und Diskussionen und ich muss zugeben, dass ich diese gemeinsame Lektüre immer wieder vermisse, wenn ich heute ein Buch in die Hand nehme; Homo Faber, Die schwarzen Schafe, Die neuen Leiden des jungen W., Mutter Courage, A Sibila, A Queda de um Anjo, os Maias, …
Und die Lyrik
Es fing gleich in der Grundschule an:
Balada de neve, de Augusto Gil
«Batem leve, levemente, como quem chama por mim…», und hörte nie wieder auf:
Gefunden, von Johann Wolfgang von Goethe:
«Ich ging im Walde, so für mich hin, und nichts zu suchen das war mein Sinn…»
Im Gymnasium wurden die Gedichte, mit denen wir uns zu beschäftigen hatten, länger und dementsprechend schwieriger zu interpretieren:
«Erros meus, má fortuna, amor ardente – Em minha perdição se conjuraram; Os erros e a fortuna sobejaram, – Que pera mim bastava amor somente.»
«O poeta é um fingidor, finge tão completamente que chega a fingir que é dor, a dor que deveras sente…»
Und als letztes noch, kurz vor dem Abitur begegneten wir Andreas Gryphius:
«Was sind wir Menschen doch? Ein Wohnhaus grimmer Schmerzen, ein Ball des falschen Glücks…»
Ein falsches Glück war es bestimmt nicht, trotz der vielen Interpretationsschwierigkeiten!
Nächster Halt: die Musik:
Das erste Lied, gleich im Herbst des ersten Kindergartenjahres:
«Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne…» und es folgten tausend andere mehr, zu jedem Anlass eins, und zwar das ganze Jahr durch:
Sankt Martin, Sankt Martin ….
Lasst uns froh und munter sein ….
Das bekannte “Oh du fröhliche”, das Lied, das am Ende jedes Weihnachtsfests gesungen werden musste …
Manche Lieder in anderen Sprachen:
«Trois jeunes tambours, die kehrten heim vom Kriege …»
Oder «What shall we do with a drunken sailor…»
Sogar Lateinisch: «Omnia, omnia tempus habent et suis… Alles, alles hat seine Zeit»
und nicht nur hatte alles seine Zeit, sondern wir hatten auch für alles Zeit! Mir fällt gerade ein, dass wir sogar unseren Lehrern ein eigenes Lied widmeten, der bekannte Hit “Chorgymnastik”!
Obwohl es im Liedtext heiβt “keiner gibt sich richtig Mühe”, haben wir uns meistens groβe Mühe gegeben: wie viele Definitionen, wie viele Regeln stecken heute noch in dieser Schnittmenge?
«Eine Synkope ist eine Betonung gegen den Takt…», «Arbeit ist gleich Kraft mal Weg», «Trenne nie st, denn es tut ihm weh…», «Wer nämlich mit “h” schreibt ist dämlich», «Punktrechnung vor Strichrechnung», und so weiter und so fort.
Natürlich hatten wir manchmal auch unsere Probleme, Ângela hat sie einmal sogar gezählt: es waren sieben, wenn ich mich recht erinnere (“Tenho sete problemas”)! Aber es lieβ sich immer eine Lösung finden: sogar dann, als jemand „mit «Limonaden» geschossen“ hat und diese im Garten unserer Englisch-Lehrerin, D. Joana Magalhães landeten!
Es folgten Strafen, Einträge im Klassenbuch, nach drei Einträgen einen Arrest …
Arrest- das ist ein interessantes Wort, das ich zum ersten mal hier in der Schule gehört habe und das zur groβen Familie der deutschen Wörter gehört, für welche ich immer noch keine passende Übersetzung ins Portugiesische finden konnte: ich fürchte, ich habe mir auch nie richtig Mühe gegeben, eine passende Übersetzung zu finden, weil ich diese Ausdrücke so wie sie sind mag; ich fürchte ich liebe
peinliche Situationen, kleinkarierte Menschen und auch Lehrer, die stinksauer werden, weil die Schüler Hitzefrei verlangen oder weil es nicht zum gewünschten Aha-Effekt kommt! In welch anderer Sprache gibt es einen Aha-Effekt?
Und schlieβlich, bevor unsere kleine Reise zu Ende ist, besuchen wir kurz noch die netten Familien, die jahrelang unseren Alltag prägten, Menschen, die wir so gut kannten, echte Freunde, ohne die unser Leben nur halb so schön wäre, und ich meine damit natürlich
Colin, Linda, Mrs. und Mr. Scott, Tibby und Toby
Monique, Daniel, Mme und Mr. Leroc, Pasqual, Brigitte, Mme. und Mr. Neveu
Was glaubt ihr, sitzt Pasqual immer noch neben seinem “transistor”, und “les clés de la voiture”, ob Mr. Neveau sie endlich mal gefunden hat?
Und zuletzt noch unsere liebe Stella, Carlos Arglebe, wie geht es ihr denn? Kannst du sie mal kurz rufen?: STELLAAAAA! (A Streetcar named Desire)
Egal aus welcher Perspektive wir sie betrachten, ob Vogel- oder Frosch- (die Namen kennen wir übrigens aus dem Kunstunterricht) es waren wirklich einzigartige, tolle Zeiten!
Vor 25 Jahren sagte uns unser damaliger Klassenlehrer hier im Festsaal, und ich zitiere:
«Wieviel Ihr in der Schule wirklich für Euer Leben gelernt habt – diese Frage wird jeder für sich vielleicht in späterer Zeit beantworten können […] aber ich jedenfalls bin der Überzeugung, dass Ihr insgesamt für Euer Leben gelernt habt. Ja, ich meine, dass Ihr gerade an dieser Schule, die ja eine Begegnungsschule ist, eine Schule, an der sich zwei Kulturen, die portugiesische und die deutsche, fruchtbar durchdringen, in ganz besonderem Maße gelernt habt für ein Leben […] in einem Europa, das nicht allein ein einheitlicher Wirtschaftsraum sein wird, sondern auch ein Kulturraum, dessen nationale und regionale Kulturen sich gegenseitig bereichern und anregen; ein Leben in einem Europa, das eine Zukunft hat und in dem Ihr eine Zukunft haben werdet.»
Lieber Herr Menke, wie immer, hatten Sie Recht!
Danke schön!
Joana Guimarães
12.07.2014